Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von all den Geschichten

"In irgendeine Nische passen wir schon rein,
ist sie zu schmal machen wir uns klein.
Irgendeine Ecke findet sich für dich,
irgendeine Ecke, wo du glücklich bist."

(LOT feat. Alin Coen: Nische)

Herrn Müllers Frau brennt durch und räumt ihm die Wohnung aus. Sie leert den Kühlschrank und nimmt sein Auto mit. Frau Fischer holt das Kind ihres Mannes vom Kindergarten ab und verschleppt es nach Tschechien. Seit Wochen ist sie spurlos verschwunden. Mit 12 Jahren wird Frau Müller während eines Praktikums mehrfach sexuell von ihrem Chef und verschiedenen seiner Angestellten missbraucht. Sie wird gerne Autoritäten gegenüber handgreiflich. Herr Arnold hat die sexuellen Übergriffe in seiner Vergangenheit auch nicht verkraftet. Das äußert sich in seinem Verhältnis zu analen Ausscheidungen. Frau Schneider ist hoch verschuldet und kauft sich am Wochenende trotzdem das neueste iPhone. Media Markt ist nur ein weiterer Gläubiger auf einer Liste, die kein Ende nimmt. Und man muss ja auch nicht jeden Brief öffnen, der im Briefkasten liegt. Herr Schmidt läuft dagegen seit Monaten in dem gleichen Hemd umher. Er riecht komisch und hat die letzten Stromrechnungen nicht mehr bezahlt. Frau Meier muss auf Toilette, wenn sie nervös wird. Manchmal bemerkt sie das erst, wenn es bereits zu spät ist. Dann wird sie rot und fängt an zu weinen. Herr Wagners Haus wurde zwangsversteigert. Er ist mit seiner pflegebedürftigen Mutter in eine Gartenlaube gezogen. Weil es keine Heizung gibt, teilen sie sich ein Bett. Frau Weber steht jeden Tag nach der Arbeit am Kiosk am Bahnhof und trinkt in Gesellschaft ihrer Freunde ein paar Flaschen Bier. Außer Freitags. Freitags sitzt sie vorm Aldi und gönnt sich zwei Flaschen Jim Beam. Der Ehemann von Frau Richter zieht sie manchmal aus und fesselt sie bis zur vollkommenen Bewegungsunfähigkeit ans Bett. Es bereitet ihm Freude, sie zu verprügeln, während sie wehrlos dort liegt. Er fotografiert ihre Hämatome und Wunden und sie liebt ihn. Frau Klein wünscht sich ein Kind. Welcher Mann ihr diesen Wunsch erfüllt, ist ihr egal. Sie sehnt sich nur danach, sich ein bisschen weniger einsam zu fühlen. Herr Becker lebt in seiner eigenen Welt und spinnt sich ein Netz aus Lügen. Niemals hat ihn jemand eine Spielhalle betreten sehen. Das Obdachlosenheim ist eine riesige Wohngemeinschaft voller Freunde.

"Auf irgendeine Art und Weise sind wir alle verkrachte Existenzen. Wir stehen am Rand der Gesellschaft. Als Zahl in einer Statistik, die niemanden interessiert. Glauben sie nicht, dass ich das nicht weiß.", sagt mein Mitarbeiter resigniert, "Wir sind nicht umsonst hier gelandet."
Ich möchte meine Hand auf seine legen. Das Gefühl, verloren zu sein, ist mir bekannt. Es ist unerträglich. So gerne würde ich ihm ein wenig mehr Halt in dieser Welt geben.


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Vom Kaffee und vom Leben

Vom Unglücklichsein

Vom Schmerzgedächtnis