Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Von der einzigen Rakete

Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.“
(Johann Wolfgang von Goethe)

Als ich zum Empfangstresen komme, steht er da, einer meiner geliebten Mitarbeiter. „Na, mein Engel?“, schäkert er mit mir. Ich lächle. Aufrichtig. „Na, mein Sonnenblümchen?“, antworte ich ihm und freue mich, ihn zu sehen. Weil es der Freitag vorm Jahreswechsel ist, ist es ruhig im Büro und ich habe ein bisschen mehr Zeit als sonst. Also frage ich ihn, was es Neues gibt und wie es ihm geht. Er kommt ins Reden und ich spüre, dass er unser Gespräch genießt, dass es ihm gut tut, dass ich ihm Interesse entgegenbringe und vor allem zuhöre. Weil er seit Jahren seinen pflegebedürftigen Vater versorgt, der sich um den Verstand getrunken hat, verbringt er viel Zeit Zuhause. Er sieht immer nur die gleichen Menschen, erzählt er mir: Seinen Vater und die Krankenschwester, die sich um seinen Vater kümmert, während er arbeiten ist. Er sagt es nicht, aber ich weiß, dass das für ihn nicht so leicht zu ertragen ist. Es ist kein einfaches Leben, das er führt.

Als ich ihn eingestellt habe, diesen Mitarbeiter, war ich mir sicher, dass er nicht lange bei mir arbeiten würde. Unabhängig von der Doppelbelastung Arbeit und Familie, der er durch seinen Job bei mir und seinen pflegebedürftigen Vater ausgesetzt ist, ist er der einzige Mitarbeiter, den ich habe, der nicht dreischichtig arbeitet, sondern nur Nachmittags. Hinzu kommt, dass er Analphabet ist. Dadurch ist er nur eingeschränkt arbeitsfähig und es ist nicht gar nicht mal so einfach, ihn in Arbeit zu halten. Trotzdem ist es mir eine Herzensangelegenheit, immer wieder passende Aufgaben für ihn zu finden. Denn er ist zuverlässig und fleißig. Und ich muss zugeben, dass ich ihn einfach sehr, sehr gerne habe.

„Was machst du an Silvester?“, frage ich ihn.

Es sind nur Sekunden, innerhalb derer die Stimmung nun kippt. Plötzlich wirkt der Mann, der mir gegenübersteht, klein und zerbrechlich. Er hat Tränen in den Augen. „Ach, was soll ich denn schon machen?“, fragt er mich leise. Sein Ton klingt... erschöpft und er blinzelt leicht gegen seine feuchten Augen an, „Ich bin Zuhause. Mit meinem Vater. Und vielleicht kommt auch die Krankenschwester nochmal zu Besuch. Ich kann ja nicht weg. Muss mich ja um den Vater kümmern.“

Ich muss schlucken, bevor ich ihm antworte. Möchte am liebsten meine Hand auf die seine legen, weiß aber, dass es Grenzen gibt, die man als Chef nicht unbedingt überschreiten sollte.
„An Silvester feuere ich eine Rakete in den Himmel und wünsche mir etwas für dich.“, sage ich und lächle ihn warm an. Wenn ich ihm gegenüber stehe, verspüre ich immer das tiefe Bedürfnis, ihn ein ganz kleines bisschen glücklicher zu machen. Es ist mir wichtig, ihn aufzumuntern.

Ich weiß, dass er sein ganzes Leben darauf aufgebaut hat, seinem Vater das Leben so lebenswert zu machen, wie es noch möglich ist. Mittlerweile hat der Vater sogar ein Glöckchen neben dem Bett. Damit er läuten kann, wenn er Nachts etwas braucht oder sich nicht wohlfühlt. Ich weiß, wie oft er die Glocke läutet. Häufig. Noch häufiger als häufig. Und das mein Mitarbeiter das, zusätzlich zu seinem Vollzeitjob bei mir, noch stemmen kann, grenzt an ein kleines Wunder. Er opfert sein eigenes Leben dem seines Vaters. Ohne daran zu zweifeln, ob dies die richtige Entscheidung ist. Er zweifelt nicht einmal dann, wenn er Nachts vom Glöckchen geweckt wird und emotional und körperlich so erschöpft ist, dass er zu weinen beginnt. All das erzählt er mir manchmal, wenn wir Zeit haben und ein paar ruhige Minuten miteinander teilen. Er ist einfach von Herzen gut.

So kommt es, dass ich am 31.12.2016 meine Wohnung um Mitternacht verlasse, mich auf die Straße stelle, eine Rakete in den Himmel steigen lasse und mir dabei etwas für ihn wünsche. Ich bin sicher, dass er alles Glück der Welt verdient hat. Und ich nehme mir vor, mein eigenes Leben ein wenig mehr zu schätzen. Mir und meinen Lieben geht es gut.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Vom Kaffee und vom Leben

Vom Unglücklichsein

Vom Schmerzgedächtnis