Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Herzstück


„Ich küsse dich
wie du bist
und wie du sein wirst
morgen und später
und wenn meine Zeit vorbei ist“


(Ausschnitt aus: Erich Fried: Wie du solltest geküsst sein)


Ich denke an ihn, während ich durch den Wald laufe. Daran, wie es wohl wäre, gemeinsam mit ihm alt zu werden. Schlohweißes Haar stünde ihm sicher gut. Einen lustigen Kontrast würde das bilden zu seinen graublauen Augen. Bestimmt hätte er einen wuselig-fusseligen weißen Bart. Er könnte in der Weihnachtszeit den Weihnachtsmann für unsere Enkelkinder spielen. Abends würden wir vor dem Kamin sitzen, Tee trinken und uns Geschichten über unser Leben erzählen. Weißt du noch, wie das damals war? Als du mich unter dem Mistelzweig geküsst hast und ich lachen musste, weil mich dein Bart so sehr gekitzelt hat?

Im Sommer würden wir lange Spaziergänge machen. Vielleicht würden wir beide irgendwann am Stock gehen, uns gegenseitig stützen und die Jugendlichen, die Biertrinkend auf den Wiesen säßen, belächeln. Ich hätte einen Picknickkorb dabei, den ich langsam auf einem hölzernen Bollerwagen hinter mir herziehen würde. Wir würden uns auf eine der Bänke setzen, Rotwein aus langstieligen Gläsern trinken und auf unser Leben, unsere Erinnerungen, einfach auf einander anstoßen. Wir würden wissen, was wir denken, ohne es aussprechen zu müssen. Witze, die niemand außer uns verstünde, würden uns verbinden. So wie unsere Gefühle für einander.

Aus der Hand des anderen würden wir Weintrauben und Käse essen und dabei kichern wie zwei verliebte Teenager. Aber das wäre uns nicht peinlich. Im Gegenteil: Ich würde es genießen, jede einzelne Falte seines Gesichts in- und auswendig zu kennen, ihm Geschichten darüber zu erzählen, welche Falte ich welchem Erlebnis zuschreiben würde. Manchmal würde ich ihm meine Hände auf seine Wangen legen und ihm zärtlich die Falten aus dem Gesicht streichen. In seinen geglätteten Gesichtszügen würde ich den jungen Mann von früher neu entdecken. Ein kribbeliges Gefühl würde sich, blubbernd wie Kohlensäure, in meinem Bauch breitmachen und für einen Moment lang hätte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Vor Glück.

Dort, auf unserer Bank, würden wir sitzen, an dem einen oder anderen Tag. Mal bei strahlendem Sonnenschein, mal im strömenden Regen, unter einem roten Regenschirm. An schlechten Tagen würde ich Decken mitnehmen, die wir uns über die Knie legen könnten. Er würde sein Pfeifchen vor sich hin paffen, kleine Rauchkringel in die Luft pusten und über das Leben nachdenken. Vielleicht hätte er auch immer einen Stift dabei, um sich Notizen zu wichtigen Gedanken, ungeschriebenen Geschichten oder besonderen Erkenntnissen zu machen. Oder er würde mir die Welt erklären. Aus seiner Sicht. Ich würde in mich hinein lächeln und über dem Anblick seiner Augen das Zuhören vergessen, weil ich alle seine Gedanken bereits kennen würde. Und doch würde ich sie mir immer wieder gerne anhören. Wenn er nach vergessenen Worten suchen würde, würde ich ihm aushelfen. Manchmal würde es ihn ärgern, wie gut ich ihn kenne. Dann würde er vor sich hin brummeln und ich müsste ein weiteres Grinsen unterdrücken.

Auf der Bank sitzend würde ich den Wind in meinem grauen Haar und auf meiner Haut spüren, mich an Butterblumen, Gänseblümchen und Raps erfreuen und, vollkommen hippieesk, einen Blumenkranz binden. Ich würde mir die Schuhe von den Füßen streifen, den warmen Erdboden unter meinen Fußsohlen spüren und ab und an, wie eh und je, mit den Zehen wackeln. Er würde mich manchmal mit meinen Marotten aufziehen, meistens aber nur liebevoll über sie hinwegsehen. So wie ich über seine Eigenheiten nur leise lächeln würde. Wir wären einander alles. Hätten unsere Leben hinter uns. Wir wären zufrieden.

In manchen Momenten würde ich meine Hand auf die seine legen. Nur um ihn noch für ein paar Minuten festzuhalten. Zur Sicherheit. Um seine Anwesenheit bewusst zu genießen. Unser Glück voll und ganz auszukosten. Den Moment festzuhalten. Ihn im Herzen bewahren zu können. An jedem einzelnen Tag, an dem wir uns wieder von unserer Bank erheben würden, würde ich mich ihm zuwenden, sein Gesicht in meine Hände nehmen und ihn küssen. Auf die rechte Augenbraue, den linken Mundwinkel, die Nasenspitze, die linke Augenbraue, den rechten Mundwinkel und die Augenlider. Jeder Kuss wäre ein Dank. Danke, dass es dich gibt. Danke dafür, dass du du bist. Danke dafür, dass du mich begleitest. Wie immer würde ich jedes einzelne Danke, jedes unausgesprochene Versprechen und jedes meiner Gefühle für ihn mit einem Kuss auf seinen Mund besiegeln. Ich liebe dich. Danke, dass ich dich lieben darf.

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